Vielleicht sagst Du Dir auch gerade, dass Dein Partner eigentlich kein Autist sein kann, denn Autisten haben doch gar kein Interesse an einer Liebesbeziehung, oder?
In unserer Gesellschaft gibt es leider immer noch viele Vorurteile und Wissenslücken zum Thema ‚Autismus und Partnerschaft‘. So mancher, der zum ersten Mal damit in Kontakt kommt, fragt sich: Haben Autisten Gefühle? Besitzen sie Empathie? Spüren sie Liebe? Genießen sie körperliche Berührungen und Sexualität?
In diesem Artikel erfährst Du, was an den fünf häufigsten Vorurteilen dran ist.
Vielleicht bist Du gerade zufällig über diese Website gestolpert und hast Dich beim Lesen der Web-Adresse dieses Blogs direkt gefragt:
Autismus und Partnerschaft – geht das überhaupt?
Oder Dich beschleicht immer mehr die Vermutung, dass Dein Partner Autist sein könnte. Möglicherweise hast Du bisher auch gedacht, Autismus und Partnerschaft passen eigentlich gar nicht zusammen …
Könnte aber tatsächlich sein, dass Du aus Deinem eigenen Beziehungsalltag viel mehr darüber weißt, als Du bisher angenommen hast.
Oder Du bist Dir schon lange sicher, dass Autismus in Deiner Partnerschaft eine Rolle spielt, und weißt deshalb auch:
Autismus und Partnerschaft? Na klar geht das! Und zwar manchmal sehr gut, manchmal so mittel gut und manchmal gar nicht gut.
Aber wie kommt es eigentlich, dass immer noch viele Menschen denken, dass Autismus und Liebesbeziehungen nicht zusammenpassen?
Das hängt mit den Bildern über Autismus in unseren Köpfen zusammen, die sich leider immer noch recht hartnäckig halten.
Diese Vorstellungen haben aber nichts mit der Realität, also mit den tatsächlichen Erfahrungen und Berichten von Autisten und dem aktuellen Stand der Forschung zu tun!
Vorurteil #1: Autisten haben kein Interesse an einer Partnerschaft
Wenn Du selbst einen autistischen Partner hast, dann weißt Du aus eigener Erfahrung:
Natürlich haben viele autistische Menschen Interesse an einer Partnerschaft!
Autisten haben Dates, sie flirten, sie sind in Beziehungen, sie sind verheiratet, sie leben Sexualität und sie sind Eltern.
In einer Studie (Strunz et al., 2017), in der 229 ‚hochfunktionale‘ Autisten befragt wurden, fand man Folgendes heraus:
- 27 % der befragten Autisten hatten keinerlei Beziehungserfahrung,
- 44 % befanden sich aktuell in einer Partnerschaft,
- 73 % waren zum Zeitpunkt der Befragung oder vorher in einer Beziehung
- und lediglich 7 % gaben an, dass sie keinen Wunsch nach einer Liebesbeziehung haben.
- Das heißt: 93 % der befragten Autisten waren prinzipiell an einer Partnerschaft interessiert!
Bei vielen Familien mit einem autistischen Kind fällt im Laufe der Diagnostik des Kindes auf, dass auch ein Elternteil Autist ist. Das ist auch logisch, weil Autismus eine stark erbliche Komponente hat (Klei et al., 2012). Gleichzeitig heißt es, dass viele autistische Menschen natürlich Interesse an Sexualität und Partnerschaften haben.
Eine Besonderheit bei autistischen im Vergleich zu neurotypischen Menschen ist eine häufig größere Flexibilität bezüglich Geschlechtsidentität und sexueller Orientierung (Dewinter et al., 2015; Janssen et al., 2016). Autisten berichten, dass sie sich zu einer bestimmten Person hingezogen fühlen, weil diese als Mensch so ist, wie sie ist. Das Geschlecht sei da zweitrangig.
Studien legen nahe, dass für diese größere Offenheit sowohl biologische als auch soziale Faktoren verantwortlich sind (George & Stokes, 2016).

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Vorurteil #2: Autisten haben keine Gefühle
Dein Partner und Du macht gemeinsam einen Spaziergang durch eine fremde Stadt. Du freust Dich, dass ihr zusammen auf Erkundungstour geht, und machst Deinen Partner voller Begeisterung auf all das aufmerksam, was Du entlang eures Weges entdeckst:
„Schau mal, dieses schöne kleine Häuschen da! Und hier, diese Bäckerei sieht doch gemütlich aus! Da könnten wir morgen frühstücken. Ach, ist es nicht schön hier?“
Dein Partner geht neben Dir und sagt nichts. Er teilt keinerlei Gefühl mit Dir. Du bist verunsichert:
Freut er sich denn gar nicht?
Überhaupt fällt es Dir häufig sehr schwer, einzuschätzen, wie es Deinem Partner geht. Obwohl Dir das bei vielen anderen Menschen sehr leichtfällt.
Erst letzte Woche warst Du wieder ziemlich irritiert: Ein Kollege, mit dem Dein Partner sich gut verstanden hat, ist plötzlich verstorben. Als ihr darüber gesprochen habt, hast Du gemerkt, wie traurig Du selbst darüber bist und wie stark Du mit dem Verlust, den Dein Partner erlitten hat, mitfühlst. Aber im Gesicht Deines Partners konntest Du keinerlei Gefühl ablesen. Die Mimik war komplett neutral.
War er denn gar nicht traurig?
Als Du überrascht und auch ein bisschen besorgt gefragt hast: „Wie geht es Dir denn damit?“, hat er geantwortet:
„Ist schon okay.“
Er konnte seine Gefühle nicht näher beschreiben, hatte keine Worte dafür.
Auch in weniger dramatischen Situationen fragst Du Dich vielleicht ganz häufig:
Wie fühlt er sich denn?
Und manchmal sogar:
Fühlt er denn überhaupt irgendetwas?
(Obwohl Du Dir gleichzeitig gar nicht vorstellen kannst, dass er nicht fühlen könnte …)
Die Antwort lautet:
Natürlich fühlen autistische Menschen die gleichen Emotionen wie neurotypische Personen: Ärger, Trauer, Angst, Frustration, Enttäuschung, Überraschung, Ekel, Freude und Stolz. Die ganze Bandbreite.
Oft sind jedoch die Auslöser unterschiedlich, es bestehen Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen differenziert wahrzunehmen, sie werden nicht spontan mitgeteilt und der Ausdruck der Emotionen ist anders.
„Wir drücken unsere Gefühle nicht auf die übliche Weise aus, aber wir haben sehr intensive Gefühle.“
Joe Biel, autistischer Autor (Biel & Harper, 2020, S. 21; eig. Übers.)
Drei Aspekte können zum Fortbestehen des Vorurteils beitragen, Autisten hätten keine Gefühle:
- Freude wird nicht spontan geteilt und
- es liegen der sogenannte ‚flache Affekt‘
- sowie die Gefühlsblindheit vor.
1) Viele Autisten reden nicht von sich aus bzw. nicht spontan über Beobachtungen, die sie machen, oder über Dinge, die Freude bei ihnen auslösen.
Sie sehen oft keinen Sinn darin, offensichtliche Dinge auszusprechen und freuen sich lieber im Stillen.
2) Manche Autisten zeigen überwiegend einen komplett neutralen Gesichtsausdruck (sogenannter ‚flacher Affekt‘).
Das ist ganz unabhängig davon, welche emotionalen Stürme in ihnen toben mögen.Von außen ist davon nichts zu sehen.
Es kann z. B. sein, dass Dein Partner auf Dich gelassen und entspannt wirkt, obwohl er sehr traurig ist.
Du erlebst ihn als abweisend, obwohl er gerade emotional leidet.
Du hast den Eindruck, er sei traurig, obwohl es ihm gut geht.
Das kann dazu führen, dass Du verunsichert und irritiert bist.
Passt das, was Dein Partner sagt, nicht zu dem, was seine Mimik (vermeintlich) kommuniziert, kann Dich diese Diskrepanz sogar innerlich in Alarmbereitschaft versetzen.
Für Deinen Partner bedeutet es wiederum, dass er nur selten die Erfahrung macht, in seinen Gefühlen und Bedürfnissen wirklich verstanden zu werden. Die Gefahr besteht, dass wichtige Bedürfnisse unerfüllt bleiben und keine Unterstützung angeboten wird, auch wenn diese vielleicht notwendig wäre.
Um Deine Verunsicherung zu reduzieren, hast Du Dir möglicherweise inzwischen angewöhnt, Deinen Partner in regelmäßigen Abständen zu fragen:
„Geht’s Dir gut?“
„Ist alles in Ordnung?“
Und er antwortet häufig verwundert:
„Ja, klar. Wieso nicht?“
Prinzipiell ist es natürlich eine gute Idee, nachzufragen, wenn Du unsicher bist. Nur kann Dir da die Gefühlsblindheit Deines Partners gewaltig dazwischenfunken.
3) Gefühlsblindheit umfasst Schwierigkeiten beim Identifizieren und Beschreiben von eigenen Gefühlen und wird auch Alexithymie genannt.
Das ist Griechisch und bedeutet „keine Worte für Gefühle“.
Dein Partner nimmt also vielleicht eine Empfindung wahr, kann aber nicht genau benennen, um welches Gefühl es sich dabei handelt. Ist es Angst oder Ärger?
Alexithymie ist bei Autisten weit verbreitet; je nach Studie sind 40–70 % davon betroffen (Berthoz & Hill, 2005; Heaton et al., 2012; Hill et al., 2004). In der allgemeinen Bevölkerung sind es deutlich weniger, nämlich ca. 5–13 % (Kinnaird et al., 2019; Mattila et al., 2006; Salminen et al., 1999).
Das bedeutet gleichzeitig auch: Wenn Du Deinen Partner nach seinen Gefühlen fragst und er darauf nicht antwortet, bedeutet das nicht, dass er nicht antworten will, sondern dass er nicht antworten kann. Dass ihm dafür sprichwörtlich die Worte fehlen.
„Ich weiß, dass ich mich manchmal verschließe, und ich bin ängstlich, weil ich keine Worte finde, um zu beschreiben, wie ich mich fühle, und das wird noch schwieriger, wenn ich unter Druck gesetzt werde, es zu tun.“
Autistischer Partner (Pike & Attwood, 2019, S. 25, eig. Übers.)
Dieses „Fehlen der richtigen Worte“, um Gefühle zu beschreiben, kann sich auch im Kontakt mit Dir zeigen, wenn es darum geht, Deine Gefühle wahrzunehmen und einfühlsam darauf zu reagieren.

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Vorurteil #3: Autisten können keine Empathie empfinden
Vielleicht hast Du schon häufiger die Erfahrung gemacht, dass Dein Partner sich ganz und gar nicht so verhält, wie Du es erwarten würdest, wenn es Dir emotional schlecht geht?
Möglicherweise reagiert er gar nicht auf Deine Emotionen, zieht sich zurück oder fragt Dich verunsichert:
„Ist alles in Ordnung?“
Obwohl es ja wohl sehr offensichtlich ist, dass gerade nichts in Ordnung ist!
In solchen Situationen können dann schon mal Gedanken aufkommen wie:
Hat er denn gar keine Empathie?
Es scheint ihm total egal zu sein, dass es mir schlecht geht!
Wie kann man nur so kalt und gleichgültig sein?
Aus Deiner Perspektive mag es tatsächlich so erscheinen, als ob Dein Partner nicht empathisch sei, weil er seine Empathie nicht immer auf die in unserer Gesellschaft erwartete neurotypische Art und Weise zeigt.
Drückt Dein Partner seine Empathie auf autistische Art aus, kann es sein, dass Du sie nicht als solche erkennst.
Um mit jemand anderem mitfühlen zu können, sind viele Schritte notwendig (Fletcher-Watson & Bird, 2020):
- Man muss die Aufmerksamkeit auf die Körpersprache und Mimik des anderen lenken,
- man muss beides richtig interpretieren, also das Gefühl sowie den Auslöser des Gefühls erkennen
- und erst dann kann man mitfühlen.
Dieser Prozess wird kognitive Empathie genannt und ist die Voraussetzung für das emotionale Mitfühlen mit anderen.
Ein autistischer Partner beschreibt die Schwierigkeit, die Situation richtig einzuschätzen, so:
„Ich würde sagen, dass jeglicher Mangel an gezeigter Empathie meinerseits wahrscheinlich darauf zurückzuführen ist, dass ich die Notwendigkeit dafür nicht erkannt habe oder die Situation nicht verstanden habe, und nicht auf den bewussten Versuch, die Notwendigkeit dafür zu ignorieren oder nicht anzuerkennen.“
Autistischer Partner (Pike & Attwood, 2019, S. 90, eig. Übers.)
Das wirkliche emotionale Mitschwingen, also etwas vom Gefühl des anderen selbst zu fühlen, heißt emotionale Empathie.
Wie neurotypische Personen sind auch autistische Menschen unterschiedlich empathisch; sehr viele Autisten berichten jedoch davon, dass sie im Vergleich zu neurotypischen Menschen sogar besonders intensiv empathisch mitfühlen können.
Damit Du erkennst, dass Dein Partner mit Dir fühlt, muss er seine emotionale Empathie aber auch so zeigen, dass Du sie als stimmig wahrnimmst, d. h. neurotypisch.
Er muss sich also für eine der vielen möglichen (neurotypischen) Reaktionsmöglichkeiten entscheiden. Viele Autisten beschreiben eine große Unsicherheit, wie sie ‚richtig‘ reagieren sollen:
„Was Empathie selbst betrifft, glaube ich, dass ich erkennen kann, wenn eine Person verärgert ist oder etwas nicht stimmt. Allerdings bin ich mir nicht immer sicher, was ich tun soll oder wie ich reagieren soll.
Es liegt sicherlich nicht daran, dass ich ‚kalt‘ oder gleichgültig bin – ganz im Gegenteil. Ich denke, dass ich ein sehr fürsorglicher Mensch bin und es nicht mag, wenn jemand leidet …“
Autistischer Partner (Pike & Attwood, 2019, S. 90, eig. Übers.)
Diese Entwicklung von Empathie passiert nicht automatisch, sondern ist harte kognitive Arbeit. Das ist sehr anstrengend und braucht Zeit, weil dieser Prozess nicht automatisch abläuft.
Vielleicht merkst aber auch Du im Kontakt mit Deinem Partner manchmal, wie schwer es ist, seine Gefühle zu erkennen, seine Bedürfnisse nachzuvollziehen und seine Perspektive wirklich zu begreifen.
Manchmal musst Du nachfragen, ob bei ihm alles in Ordnung ist, manchmal muss er fragen, ob bei Dir alles in Ordnung ist.
Tatsächlich ist es so, dass nicht nur autistische Menschen Probleme damit haben neurotypische Sichtweisen zu verstehen, sondern andersherum genauso:
Neurotypischen Menschen fällt es auch schwer, autistische Perspektiven zu verstehen.
Man spricht hier vom „doppelten Empathie-Problem“ (Milton, 2012).
Die unterschiedlichen Arten, Gefühle und Empathie auszudrücken, erschweren eine emotionale Gegenseitigkeit und können in der Partnerschaft zu einem Gefühl der emotionalen Distanz führen.

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Vorurteil #4: Autisten können keine Liebe empfinden
Dein Partner will häufig lieber allein sein, als mit Dir etwas zu unternehmen.
Wenn Du etwas zusammen mit ihm machen möchtest, dann musst Du die Initiative ergreifen.
Er spricht insgesamt sehr wenig mit Dir und wenn, dann sagt er oft Dinge, die Dich sehr verletzen.
Er berührt Dich kaum, was Dir sehr fehlt.
Und manchmal kommen dann Gedanken wie:
Liebt mein Partner mich überhaupt noch?
Hat er mich jemals geliebt?
Ist er denn überhaupt in der Lage, zu lieben?
Vielleicht hast Du Deinen Partner auch gefragt, ob er Dich liebt und er hat erst nach sehr langem Zögern „Ja.“ gesagt oder „Ich weiß nicht.“ oder „Was genau ist denn Liebe?“
Natürlich können diese Antworten sehr verunsichern.
Liest man jedoch Erfahrungsberichte von autistischen Menschen, wird deutlich, dass Autisten durchaus Liebe empfinden können:
„Ich liebe sie mehr als alles andere auf der Welt und bin zu 1000 % bereit, alles mit ihr durchzumachen, wenn es sie am Ende glücklich macht und unser Leben besser macht.„
Austin John Jones, Blogger und autistischer Partner in einer neurodiversen Partnerschaft
(Jones, 2021, eig. Übers.)
Autisten haben jedoch häufig eine andere, nicht neurotypische Art, Liebe zu zeigen. So kann es sein, dass Du Zeichen der Liebe Deines Partners gar nicht als solche erkennst und Dich deshalb nicht geliebt fühlst.
Durch diese andere, ungewöhnliche Art, ihre Liebe zu zeigen, bekommen sie in einer neurotypischen Welt immer wieder die Rückmeldung, ‚falsch‘ zu lieben oder ‚nicht genug‘ zu lieben.
Autistische Partner zeigen ihre Liebe eher weniger verbal oder körperlich, sondern vor allem durch praktische Tätigkeiten: Sie bügeln Deine Kleidung, sie denken jeden Abend daran, dass Dein Laptop geladen wird, oder sie erinnern Dich daran, dass Du Deine Nahrungsergänzungsmittel nimmst.
Häufig sind sie auch verwundert, dass der neurotypische Partner an ihrer Liebe zweifelt, denn sie tun doch jeden Tag all diese Dinge!
Aus Liebe!
Außerdem haben sie doch zu Beginn der Beziehung „Ich liebe Dich“ gesagt.
Warum sollte sich das geändert haben? Dann hätten sie das doch gesagt!
Du wirst vielleicht das, was Du Dir wünschst (Liebesbekundungen, spontane, zärtliche Berührungen), nicht genau auf die Art und Weise bekommen, die Du Dir wünschst.
Aber Du kannst lernen, an anderer Stelle nach Hinweisen auf Liebe Ausschau zu halten (Du erinnerst Dich: das gebügelte Hemd, der aufgeladene Laptop, die Nahrungsergänzungsmittel).
Wenn also der Gedanke aufkommt:
Er liebt mich nicht!, dann halte die Augen offen:
Welche Hinweise findest Du, dass er Dich doch liebt?
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Vorurteil #5: Autisten mögen keine körperliche Berührung und haben kein Interesse an Sexualität
Du berührst Deinen Partner zärtlich, und er zuckt schreckhaft zurück. Deine Geste der Zuneigung wird nicht erwidert.
Von sich aus berührt er Dich nicht, initiiert keine Umarmung, keine Küsse, keine Sexualität. Auf Deine Versuche, Sexualität anzubahnen, reagiert er nicht.
Natürlich ist diese scheinbar ablehnende Reaktion und/oder die fehlende Erwiderung sehr kränkend.
Und Du fragst Dich:
Mag er keine körperliche Berührung?
Hat er überhaupt Interesse an Sexualität?
Die Antwort ist:
Die meisten Autisten mögen bestimmte Arten von Berührungen, erleben andere jedoch als sehr unangenehm. Sie haben Interesse an Sexualität, wenngleich hier einige autistische Besonderheiten Schwierigkeiten bereiten können.
Für das oben beschriebene Verhalten kann es ganz unterschiedliche Gründe geben (Mendes, 2015):
- Sensorische Signale werden anders verarbeitet.
Viele autistische Menschen berichten, bestimmte Sinnesreize sehr viel intensiver oder sehr viel weniger intensiv wahrzunehmen als neurotypische Menschen. Dazu gehören neben dem Sehen und Hören auch das für die Berührung und die Sexualität sehr relevante Riechen, das Schmecken und vor allem das Fühlen.
Häufig wird leichte Berührung als unangenehm empfunden, tiefer Druck hingegen als angenehm. Darüber hinaus gibt es natürlich, wie auch bei neurotypischen Menschen, bestimmte Körperteile, deren Berührung angenehmer ist als das Anfassen anderer Bereiche des Körpers.
Besondere Vorlieben und Abneigungen bezüglich Geschmack und Beschaffenheit können auch dazu führen, dass autistische Menschen nicht gerne küssen oder nicht gerne Oralsex haben. Manche reagieren auch sehr sensibel auf den Körpergeruch der Partnerin. Häufig sind dem autistischen Partner diese Sensibilitäten nicht bewusst oder er schämt sich dafür.
- Wenig sexuelle Lust
Viele autistische Partner berichten über eine entweder sehr ausgeprägte oder eine sehr geringe Libido. Medikamente oder Hormonprobleme können auch ursächlich für wenig sexuelle Lust sein. Sich bewusst zu machen, dass die geringe sexuelle Lust körperliche oder neurologische Ursachen hat, kann für beide Partner entlastend sein.
- Probleme beim Verstehen nonverbaler Signale (z. B. beim Vorspiel), starke Erschöpfung, Stress und verzögerte sexuelle Reife könnenweitere Gründe für wenig körperliche Zärtlichkeit und Sexualität aufseiten des autistischen Partners sein.
- Asexualität
Im Vergleich zu neurotypischen Personen identifizieren sich Autisten statistisch gesehen häufiger als asexuell (Gilmour et al., 2012).
Fazit: Das Wichtigste für Dich kurz zusammengefasst
- Partnerschaft:
Viele autistische Menschen haben natürlich Interesse an einer Partnerschaft! In einer Studie (Strunz et al., 2017) gaben 93 % der befragten Autisten an, prinzipiell an einer Partnerschaft interessiert zu sein. - Gefühle:
Autistische Menschen empfinden die gleichen Emotionen wie neurotypische Menschen: Ärger, Trauer, Angst, Frustration, Enttäuschung, Überraschung, Ekel, Freude und Stolz. Oft sind jedoch die Auslöser unterschiedlich, es bestehen Schwierigkeiten, die eigenen Emotionen differenziert wahrzunehmen, sie werden nicht spontan mitgeteilt und der Ausdruck der Emotionen ist anders. - Empathie:
Autisten sind unterschiedlich empathisch, wie neurotypische Menschen auch. Sie haben unterschiedlich stark ausgeprägte Probleme mit kognitiver Empathie, fühlen jedoch emotionale Empathie (Mitgefühl) häufig sogar intensiver als neurotypische Menschen. - Liebe:
Autistische Menschen können genauso Liebe empfinden wie alle anderen Menschen auch. Sie drücken diese jedoch oft weniger verbal oder körperlich aus, sondern eher durch praktische Tätigkeiten. - Berührung und Sexualität:
Häufig wird leichte Berührung als unangenehm empfunden, tiefer Druck hingegen als angenehm. Die meisten Autisten haben Interesse an Sexualität, wenngleich hier einige autistische Besonderheiten Schwierigkeiten bereiten können, z. B. sensorische Sensibilitäten, geringe sexuelle Lust, Probleme beim Verstehen nonverbaler Signale, starke Erschöpfung, Stress sowie eine verzögerte sexuelle Reife. Asexualität kommt häufiger vor als bei neurotypischen Menschen.
Welches Vorurteil zu Autismus und Partnerschaft möchtest Du heute loslassen?
Du hast noch so viele Fragen, auf die Du gerne eine fundierte und professionelle Antwort hättest?
Dann mach den ersten Schritt und melde Dich bei mir!
Ich freue mich darauf, von Dir zu hören.
Quellennachweis
Berthoz, S., & Hill, E. L. (2005). The validity of using self-reports to assess emotion regulation abilities in adults with autism spectrum disorder. European Psychiatry, 20(3), 291–298.
Biel, J., & Harper, F. (2020). Autism partner handbook. How to love an autistic person. Microcosm.Pub.
Originalzitat: “We don`t express our feelings in common ways but we have very intense feelings.”
Dewinter, J., Vermeiren, R., Vanwesenbeeck, I., Lobbestael, J., & Van Nieuwenhuizen, C. (2015). Sexuality in Adolescent Boys with Autism Spectrum Disorder: Self-reported Behaviours and Attitudes. Journal of Autism and Developmental Disorders, 45(3), 731–741.
Fletcher-Watson, S., & Bird, G. (2020). Autism and empathy: What are the real links? In Autism (Vol. 24, Issue 1, pp. 3–6). SAGE Publications Ltd.
George, R., & Stokes, M. (2016). “Gender is not on my agenda!”: Gender dysphoria and autism spectrum disorder. In Psychiatric Symptoms and Comorbidities in Autism Spectrum Disorder (pp. 139–150). Springer International Publishing.
Gilmour, L., Schalomon, P. M., & Smith, V. (2012). Sexuality in a community based sample of adults with autism spectrum disorder. Research in Autism Spectrum Disorders, 6(1), 313–318. https://doi.org/10.1016/j.rasd.2011.06.003
Heaton, P., Reichenbacher, L., Sauter, D., Allen, R., Scott, S., & Hill, E. (2012). Measuring the effects of alexithymia on perception of emotional vocalizations in autistic spectrum disorder and typical development. Psychological Medicine, 42(11), 2453–2459.
Hill, E., Berthoz, S., & Frith, U. (2004). Brief Report: Cognitive Processing of Own Emotions in Individuals with Autistic Spectrum Disorder and in Their Relatives. In Journal of Autism and Developmental Disorders (Vol. 34, Issue 2).
Janssen, A., Huang, H., & Duncan, C. (2016). Gender Variance among Youth with Autism Spectrum Disorders: A Retrospective Chart Review. In Transgender Health (Vol. 1, Issue 1, pp. 63–68). Mary Ann Liebert Inc.
Jones, Austin John (2021): Relationships in Depth on the Autism Spectrum. In: The art of autism (Weblog), 09. April 2021.
Online-Publikation: https://the-art-of-autism.com/relationships-in-depth-on-the-autism-spectrum/
Abrufdatum: 02.11.2023
Originalzitat:
„I love her more than anything in this whole world, and I am 1000 % willing to go through anything with her if in the end it will make her happy and make our life better.“
Kinnaird, E., Stewart, C., & Tchanturia, K. (2019). Investigating alexithymia in autism: A systematic review and meta-analysis. In European Psychiatry (Vol. 55, pp. 80–89). Elsevier Masson SAS.
Klei, L., Sanders, S. J., Murtha, M. T., Hus, V., Lowe, J. K., Jeremy Willsey, A., Moreno-De-Luca, D., Yu, T. W., Fombonne, E., Geschwind, D., Grice, D. E., Ledbetter, D. H., Lord, C., Mane, S. M., Lese Martin, C., Martin, D. M., Morrow, E. M., Walsh, C. A., Melhem, N. M., … Devlin, B. (2012). Common genetic variants, acting additively, are a major source of risk for autism.
Mattila, A. K., Salminen, J. K., Nummi, T., & Joukamaa, M. (2006). Age is strongly associated with alexithymia in the general population. Journal of Psychosomatic Research, 61(5), 629–635.
Mendes, E. A. (2015). Marriage and lasting relationships with Asperger’s syndrome (autism spectrum disorder): Successful strategies for couples or counselors. Jessica Kingsley Publishers.
Milton, D. E. M. (2012). On the ontological status of autism: The “double empathy problem.” Disability and Society, 27(6), 883–887.
Pike, J., & Attwood, T. (2019). Neurodiverse Relationships. Autistic and Neurotypical Partners Share Their Experiences. Jessica Kingsley Publishers.
Originalzitat (S. 25):
“I know that I shut down sometimes and I feel anxious because I cannot find the words to describe how I feel, and this becomes harder when I am put under pressure to do so.”
Originalzitat (S. 90):
“As for empathy itself, I believe that I am able to recognize when a person is upset or there is something wrong. However, I am not always sure what to so or how to respond. It is certainly not a case of my being “cold” or uncaring – quite the opposite. I think I am a very caring person and don`t like to see anybody suffer…”
Originalzitat (S. 90):
“I would say that any lack of empathy displayed on my part is likely due to my not recognizing the need for it, or not understanding the situation, rather than any deliberate attempt to ignore or not acknowledge the need for it.”
Salminen, J. K., Saarijärvi, S., Saarijärvi, S., Erkki, Ä., Toikka, T., & Kauhanen, J. (1999). Prevalence of alexithymia and its association with sociodemographic variables in the general population of finland. In Journal of Psychosomatic Research (Vol. 46, Issue 1).
Strunz, S., Schermuck, C., Ballerstein, S., Ahlers, C. J., Dziobek, I., & Roepke, S. (2017). Romantic Relationships and Relationship Satisfaction Among Adults With Asperger Syndrome and High-Functioning Autism. Journal of Clinical Psychology, 73(1), 113–125.